Einerlei: Von Künstlern, Handwerkern und Pfuschern

Während meines Kunstgeschichtsstudiums besuchte ich einmal ein Exkursionsseminar zur Denkmalpflege. Das Seminar wurde damals von einem Privatdozent angeboten, der selbst  hauptberuflich Denkmalpfleger war. Das Thema des Seminars tut eigentlich nichts zur Sache. Nur eine eher beiläufige Aussage des Dozenten hat mich, neben den Seminarinhalten, damals besonders beeindruckt. Wir standen vor einem größeren Fachwerkkomplex, der unter Beibehaltung der historischen Bausubstanz fachgerecht saniert worden war und anschließend – windschief wie er war – als Hotel genutzt wurde. Der Dozent bewertete in seinen Ausführungen vor Ort die Arbeit dieses Architekten und die Arbeit von Architekten im Allgemeinen. Er sprach davon, dass eigentlich nur zehn Prozent aller Architekten Künstler seien. Der Architekt jenes Gebäudes gehöre aber unbedingt dazu. Der Rest wäre eher als Handwerker in derem Metier zu bezeichnen.

Diese Betrachtungsweise hat mich nicht nur deswegen fasziniert, weil ich sie damals sehr einleuchtend fand. Die Unterteilung in „herausgehoben und besonders“ sowie „normal“ liegt außerdem diametral zum Selbstverständnis der Architektenzunft, die sich aufgrund des gestalterischen Schwerpunktes in der Ausbildung gerne generell der Kunst zugehörig fühlt. Eine Umfrage unter Architektinnen und Architekten, in der sie sich in diese beiden Kategorien selbst einordnen müssten, würde m. E. eine andere prozentuale Verteilung als Ergebnis liefern als die meines Dozenten. Dieser hat mit seiner Kategorisierung die Bewertung als Künstler vom klassisch künstlerischen Metier losgelöst und zu einem qualitativen Maßstab des architektonischen Wirkens hingeführt.

Das damals für mich neuartige Beurteilungsschema habe ich mittlerweile etwas weiterentwickelt: Einerseits habe ich es um die Kategorie „Pfuscher“ erweitert und sie so in eine Qualitätsleiste von Künstlern auf der linken Seite über Handwerker in der Mitte und Pfuschern auf der rechten Seite eingepasst. Andererseits beschränke ich dieses Bewertungsmodell längst nicht mehr nur auf das Schaffen von Architekten. Jede Person kann in der beruflichen und privaten Ausübung entsprechend eingeordnet werden. Dabei lege ich Wert darauf, dass die Kategorie des Handwerkers keineswegs eine schlechte Bewertung darstellt. Ein guter Handwerker ist immer Gold wert! Einfache, immer wiederkehrende Aufgaben müssen genauso zuverlässig und substantiell hochwertig abgeschlossen werden wie kulturelle Neuheiten. Wer schon einmal ein Haus gebaut hat oder seine Wohnung renovieren ließ, wird dies bestätigen.

Unterziehen wir die Ärzteschaft als weiteres Berufsfeld neben den Architekten der qualitativen Kategorisierung: Mediziner sind im allgemeinen betrachtet Handwerker, nicht mehr und nicht weniger. Es sind keine übersinnlichen Wunderheiler, es sind schlicht Handwerker, die ihr durchaus sehr komplexes Fachgebiet gelernt haben und überwiegend zuverlässig anwenden. Sie erstellen eine Diagnose und verschreiben eine entsprechende Therapie. Bei Bluthochdruck gibt es Medikamente dagegen, bei Psychosen entsprechend andere. Gesund im eigentlichen Sinn wird davon eigentlich keiner, man bleibt im besten Fall etwas länger leben. Nun gibt es aber auch Künstler unter den Ärzten, die es tatsächlich schaffen, Menschen wider Erwarten zu heilen oder zerstörte Glieder sowie Sinne wieder herzustellen. Ich möchte im weniger dramatischen Segment meinen Zahnarzt als positives Beispiel nennen. Ich schätze ihn durchaus als Künstler, mindestens aber als hervorragenden Handwerker wirklich sehr hoch. Er macht immer nur das, was unbedingt notwendig ist, und das so behut- und einfühlsam, dass ich gerne zu ihm gehe. Denn wenn einmal etwas ist, weiß ich, dass ich mich danach wieder blendend fühle. Ich war schon bei Zahnärzten, die ihren Job als Handwerker gut erledigt hatten, aber ich musste häufiger als unbedingt notwendig hingehen. Und ich war auch schon bei einem Pfuscher, der nicht nur die bei mir ausgetauschten Gold-Inlays bei sich behielt, sondern dessen Arbeit noch Jahre später von den nachfolgenden Zahnärzten korrigiert werden musste.

Bei den Handwerksberufen treffen wir übrigens neben den Handwerkern und Pfuschern ebenfalls auf Künstler. Ein Fliesenleger kann als Künstler genauso besondere Ergebnisse abliefern, die über den guten Standard hinaus gehen, wie ein Wissenschaftler als guter Handwerker erwartbare Forschungsergebnisse in der Genetik abliefern kann. Natürlich ist die Ausbildung zum Naturwissenschaftler sehr viel anspruchsvoller als die zum Fliesenleger. Es geht bei der Bewertung von Arbeitsergebnissen auf der Qualitätsschiene jedoch nicht um das Ansehen eines Berufsstandes in der Gesellschaft. Nein, ausgehend von einem zu erwartenden, soliden Resultat kann jede Person besondere Maßstäbe durch künstlerisches Wirken setzen. Umgekehrt betrachtet ist man nicht automatisch ein Künstler, nur weil man die entsprechend angesehene Ausbildung absolviert hat.

Was aber macht einen Künstler aus? Was unterscheidet ihn vom guten Handwerker? Es sind das Gefühl und Einfühlungsvermögen für die Materie, die Kreativität in der Ausführung und die Akrobatik in der Anwendung der Techniken. Je weniger von diesen Eigenschaften in einer Person vertreten ist, desto mehr ist man Handwerker und zu guter Letzt auch Pfuscher.

Und was ist mit der Kunst, bildet sie eine  Ausnahme? Sind alle profitabel Kunstschaffenden auch automatisch Künstler? Nein! Meine Antwort fällt eindeutig aus. Es sind auch nur zehn Prozent Künstler unter den selbständigen Künstlern zu zählen. Ich persönlich sehe nur in Ausnahmen der Kunstszene die drei von mir genannten Eigenschaften in ausgeprägter Form vertreten, wie z. B. bei Gerhard Richter. Wieso eigentlich zehn Prozent, werden Sie sich fragen? Nun, die Antwort ist so einfach wie das Bewertungsmodell: weil mein damaliger Dozent diese Zahl aufgestellt hat! Sie sagt nichts anderes aus, als dass nur ein kleiner Bruchteil der großen Masse herausragend wirkt und als künstlerisch bezeichnet werden kann. Niemand kann sich so einfach unter die Künstler mischen, die Anforderungen und Maßstäbe sind hoch. Und gleichzeitig kann Jede und Jeder im Kleinen und Großen auch als Künstler wirken. Grundsätzlich können wir alle aber mit uns zufrieden sein, wenn wir im Laufe unseres Lebens als gute Handwerker mit guten Ergebnissen unsere Umwelt bereichern.